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Sind die meisten Einkommens- und Vermögensstatistiken einfach falsch?

Gastkommentar • Aug. 06, 2020

Ist es möglich, dass die Mehrzahl der offiziellen Einkommens- und Vermögensstatistiken falsch ist?

Laut Statistiken beträgt das Medianeinkommen in Deutschland um die EUR 3.500 brutto, und das Medianvermögen ca. EUR 35.000-60.000. Ein Single mit ca. EUR 3.500 netto soll bereits zu den 10 % der Spitzenverdiener gehören (wie bei den einzelnen Beiträgen in diesem Blog gezeigt, gibt es allerdings nicht „die Statistik“, sondern viele unterschiedliche Statistiken, die sich jedoch zumindest im Ergebnis ähneln…).

Allerdings haben viele Menschen das Gefühl, dass die Werte der Statistiken nicht mit der Realität übereinstimmen. Nach einem Bericht im Handelsblatt gehen die Deutschen davon aus, dass ca. 20% ein Nettoeinkommen von EUR 7.000-10.000 haben (Handelsblatt, 2020). Persönliche Erfahrungen legen nahe, dass die meisten Menschen viel viel mehr verdienen und auch größere Vermögen als offiziell bekannt haben (vgl. den Blockeintrag "Warum EUR 10.000 netto im Monat nicht ausreichen, um reich zu werden", https://bit.ly/3tYz5an und "4.000-5.000 Netto – die Helden des Alltages" https://bit.ly/3vWDjkt) . Mit EUR 3.500 netto in Monat kann man in München oder Köln vielleicht gerade eine zwei bis drei Zimmer Mietwohnung, den PKW und die Lebenshaltungskosten bezahlen, viel mehr aber auch nicht.

Kann es sein, dass die Statistiken alle nicht stimmen? Ein paar Theorien, warum Statistiken und persönliche Erfahrungen auseinanderfallen könnten:


I. Die Schattenwirtschaft-Theorie

Ein Erklärungsansatz könnte lauten, dass ein großer Teil aller relevanten Geldströme in keiner Statistik auftaucht, sondern Teil der sogenannten Schattenwirtschaft ist. Dabei geht es nicht nur um Gelder aus Drogenhandel oder andere Kriminalität, sondern um nebenberufliche Einkünfte vieler ansonsten legaler Berufe wie Putzfrauen, Kellner, die ihre Trinkgelder nicht versteuern, Handwerker, die einen Großteil ihrer Einkünfte nebenher schwarz beziehen, Pflegekräfte oder auch Galleristen, die Kunstwerke gegen Cash und ohne Rechnung verkaufen. Viele der Einkommens- und Vermögensstatistiken beruhen auf offiziellen Auskünften der Finanzbehörden - doch diese erfahren eben von vielen Geschäften nicht. Laut eines Berichts im Tagesspiegel 2017 (bisher habe ich seltsamerweise keine aktuelleren Berichte gefunden) flossen im Jahr 2016 etwa EUR 330 Milliarden in der Schattenwirtschaft am Fiskus vorbei (tagesspiegel, 2017). Dies sind etwas 10% des BIP. Allerdings umfasst diese Berechnung nur legale Tätigkeiten – also nicht den durchaus umsatzstarken Drogen-, Menschen- und Waffenhandel sowie Geldwäscheaktivitäten - und zudem handelt es sich auch nur um eine Schätzung, da eine empirische Erfassung natürlich nicht möglich ist, so dass die Zahlen auch viel höher liegen könnten. Die Schattenwirtschaftstheorie könnte erklären, warum es viel mehr Bezieher höherer (eben nicht versteuerter) Einkommen gibt als in der Einkommensstatistik. Die Bezieher von Schwarzgeld können mit diesem dann auch höhere Vermögen aufbauen, die wiederum in keiner Statistik auftauchen. Offizielle Vermögenserfassungen gibt es nicht, und wer wird schon so dumm sein, in den nicht-verpflichtenden Vermögensbefragungen seinen Reichtum zu offenbaren?


II. Die Verschwörungstheorie

Verschwörungstheorien sind im Augenblick ja in allen Bereichen des öffentlichen Lebens sehr beliebt, meist sind sie jedoch Unsinn. Dennoch darf eine solche Theorie, dem Zeitgeist entsprechend, hier natürlich nicht fehlen. Eine Verschwörungstheorie könnte folgendermaßen aussehen: Die Medien in Deutschland verbreiten im Grunde nur, was die Regierung (oder irgendwelche ominöse Geheimkreise…) ihnen vorgeben. Zahlreiche Beispiele von der Flüchtlingspolitik, dem Brexit oder der Trump-Wahl (die beide von den Medien vorher als völlig unmöglich dargestellt wurden) bis zur einseitigen Berichterstattung über Corona sollen dies beweisen. Das Ziel der falschen Informationspolitik ist, die Bevölkerung ruhigzustelle - „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ – und den Kurs der Regierung zu rechtfertigen. Allerdings wächst in Deutschland schon seit langem die Erkenntnis, dass sowohl Vermögen als auch Einkommen extrem ungerecht verteilt sind, und dass sich manche alles, die meisten jedoch sehr wenig leisten können. Dies führt, nicht überraschend, zu zunehmender Unzufriedenheit und letztendlich auch dazu, dass viele Bürger nicht mehr die Mainstream-Parteien, sondern Randparteien wählen. Was aber, wenn man dem Bürger mit EUR 3.500 netto (und gewöhnlich 60-80 Wochenstunden…) erzählt, dass er eigentlich gar kein armes Schwein ist, sondern zu den Spitzenverdienern zählt? Und, dass er dankbar sein muss, da die Inflation derzeit ganz gering sei (Werte geringer Inflation kann man beispielsweise dadurch erreichen, dass Kosten für Miete und Kauf von Immobilien einfach im Warenkorb untergewichtet werden). Eine Täuschung über das Einkommens-Ranking kann dann dazu führen, dass ein Bürger sich zwar immer noch nicht viel leisten kann, aber zumindest fühlt es sich gegenüber der großen Masse von anderen privilegiert. Und das hat er dann ja irgendwie der Regierung zu verdanken. Arbeitgeber (die sicherlich irgendwie mit den ominösen Kreisen verbunden sind…) haben den Vorteil, die Löhne nicht erhöhen zu müssen, da ihre Angestellte „ja nachweislich sowieso schon besser als der Durchschnitt“ verdienen. Profitieren können von so einer Politik neben den Arbeitgebern zudem die wirklich Reichen, die von der öffentlichen Meinung in Ruhe gelassen werden – denn welcher „Privilegierte“ mit EUR 3.500 netto würde schon für noch mehr Umverteilung eintreten, wohl wissend, dass er dann als Spitzenverdiener noch mehr Steuern zahlen müsste.


III. Die offizielle Theorie

Die offizielle Theorie, wenn es denn so etwas gibt, ist etwas langweilig, wie es die Wahrheit oftmals sein kann. Sie sagt, dass Leute einfach schlecht schätzen können, insbesondere wenn es um den Reichtum anderer geht. So meint der Spiegel beispielsweise, dass die meisten Befragten ihre Position in der Einkommensskala nicht einmal annähernd bestimmen können (z.B. Spiegel, 2020). Ähnlich schreibt das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in seiner Einkommensstudie 2019, dass von denen, die tatsächlich einkommensmäßig in den obersten Bereich gehören, alle ihre Einkommensposition unterschätzen (Frankfurter Rundschau, 2020)  Zudem lebt ein Großteil der Bevölkerung eben nicht in München oder Hamburg, sondern in viel preisgünstiger Städten und da lässt sich mit EUR 3.500 im Monat doch ziemlich gut auskommen.


IV. Fazit

Ehrlich gesagt halte ich alle drei Theorien für nicht sonderlich überzeugend. Die Verschwörungstheorie setzt voraus, dass die Regierung sämtliche, meist unabhängige Institutionen (einschließlich der Medien), die Statistiken erheben, kontrollieren kann – doch eher unwahrscheinlich. Die Schattenwirtschaftstheorie ist sicherlich richtig, nur ist ihr Ausmaß wohl begrenzt. Und die offizielle Theorie geht davon aus, dass der Bürger ein Idiot und unfähig ist, eine realistische Einschätzung abzugeben –meine Erfahrung ist hingegen, dass die meisten Menschen ganz gut ihre eigene finanzielle Situation und die des Umfelds abschätzen können.

Meinungen? Kommentare? Für bessere Erklärungsansätze und (seröse!) Studien zur Schattenwirtschaft/empirischen Studien zur Selbsteinschätzung oder auch zur Fälschung von Statistiken (schon Churchill sagte ja, dass du keiner Statistik trauen sollst, die du nicht selbst gefälscht hast) bin ich dankbar!



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